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Tamara Horáková   |   Ewald Maurer
Il Controdolore GMBH
1993
LKH, Universitätsklinik für Kinderchirurgie   |   Auenbruggerplatz 34
Spitäler/Sanatorien

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Installation

Copyright: Wolfram Orthacker, HTL-Ortweinschule Graz

1913 veröffentlicht der futuristische Literat Aldo Palazzeschi das Manifest „Il Controdolore“ (Der Gegenschmerz). Die revolutionäre Forderung: Alle herkömmlichen Krankenanstalten sollen geschlossen und in Orte der Unterhaltung und Zerstreuung umgewandelt werden.
1993 zieht die „IL CONTRODOLORE GMBH“ von Horáková + Maurer als „Kunst und Bau“-Projekt in den Neubau der Kinderchirurgie (Wegan, Kossdorf, Kapfhammer) am Grazer Landeskrankenhaus ein. [1]
Der aus Palazzeschis Schrift abgeleitete, programmatische Titel des vielteiligen Ensembles aus Fotos, Ready Made-Objekten, Schrift, Spiegeln, Möbeln und einer interaktiven Toninstallation steht für den ambitionierten Versuch, den emotional negativ besetzten Funktions-Raum der kinderchirugischen Ambulanz um einen (positiv konnotierten) ästhetischen Erfahrungs-Raum zu erweitern.
Horáková + Maurer vertrauen gleichermaßen auf die von Kindern zu erwartende unbefangene Neugier und ihre Freude am spielerischen Entdecken und Erforschen wie auf die Reflexionsbereitschaft ihrer erwachsenen Begleiter und des medizinischen Personals, wenn sie die Wartezonen und Gänge als Display für Wirklichkeitsausschnitte nutzen, die über zitathafte Bild- und Objekttransfers an die alltägliche Realität von Kindern angekoppelt sind, jedoch durch die abstrahierende fotografische Wiedergabe und das Einbinden in ein dichtes Netzwerk neuer Bedeutungs-Zusammenhänge auf den ersten Blick als rätselhaft und irritierend wahrgenommen werden müssen.

So lassen sich die Motive der großformatigen, gerahmten Fotografien (Cibachromes), wenn überhaupt, erst bei näherer Betrachtung als vertraute Objekte in starker Vergrößerung identifizieren: Als grüner, gelber, weißer oder brauner „CHEWING GUM“, „STAUB“ oder als gewöhnliche Löffel, die sich paarweise, rot getönt und flächenparallel als „LACHENDE LÖFFELCHEN“ und „RUHIGE ROTE LÖFFELCHEN“ vorstellen. Noch mehr imaginativen Spielraum halten sich „DISTANZHÖLZCHEN“ in blau, rot, gelb und grün oder ein “HELLES ELEKTRONISCHES GRÜN“ offen und weiße Negativ-Formen in einer magentafarbenen, glänzenden Masse geben sich wohl erst nach der Entdeckung des als Ready-Made an einer Wand befestigten „Originals“, als das zu erkennen, was übrigbleibt, wenn man Disney-Baby-Aufkleber von ihrer Trägerfolie gelöst hat. Der Titel des seriellen „Leitmotivs“ der Installation – man begegnet ihm sechzehn mal im gesamten Erdgeschoß – weist auf eine tieferliegende, über spielerische Assoziationen hinausführende Rezeptionsebene hin: Als „CHAMPIGNONS du VIETNAM (Walt Disney Company)“ lenken die Fotos, unterstützt durch die Materialsymbolik der aus dem exklusiven Tropenholz Wenge gefertigten Rahmen, den Blick über nachvollziehbare Pilzformen auf politische, historische, gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Zusammenhänge (Vietnam-Krieg, Kapitalismus versus Kommunismus, Interventions- und Invasionspolitik der USA, Postkolonialismus, Amerikanisierung, Globalisierung, Warenzirkulation, ...).

In diesem umfassenden Beziehungsgefüge lassen sich Verbindungen zu den an den Wänden befestigten Spielzeug-Objekten herstellen, die überwiegend aus ehemals kommunistischen Ländern (USSR, Tschechoslowakei, DDR, Ungarn) stammen: Ein Holzpanzer (IGRUSCHKA TANK), ein Polizeitretauto (ÜRAUTO UNGARN 1989), eine Schachtel für Kreisel (WOLTSCHOK), ein Fußball-Tischspiel oder ein „Spiel junger Architekt“ (KONSTRUKTEUR JUGEND), erzeugt in der „Fabrik Roter Stern“. Die Objekte dieser „Sammlung“ können, verfolgt man einen der möglichen Interpretationsstränge weiter, als historische Relikte und als ideologischer Gegenpart zu den Produkten der Disney-Industrie gesehen werden. Darüber hinaus verdeutlichen die Ready Mades, unter ihnen ein Teddybärenpaar, ein „HOSPITAL BED“, die Schachtel einer Chinesischen Zahnpaste (MAXAM DENTAL CREAM) oder die „Puppe West Botswana“, deren spezielle Machart nicht zufällig an die Vorgänge im Gipszimmer erinnert, vor dessen Tür sie angebracht ist, die emotionale Brückenfunktion von (Spiel-)Gegenständen zwischen dem Alltag von Kindern außerhalb und innerhalb des Krankenhauses. [2]

Der Import von (rätselhaften) Realitätsfragmenten in das Bezugssystem Kinderchirurgie vollzieht sich auch im Bereich der schriftlichen Schnittstellen zu seinen Benutzern: Inmitten des Leitsystems der Ambulanz meldet sich ein Unbekannter per Text-Siebdruck auf Schaumstoff mit „HALLO HIER SPRICHT KRIKALEV“. Im Treppenhaus angebrachte Metallbänder verweigern eine entschlüsselbare, sachliche Information und laden stattdessen zu lautmalerischen Experimenten ein: SCOPPII, SCROSCII, SIBILI, STRIDORI, SARICCHIOLI, STROPICCII TUONI, TONFI | BOATI, BISBIGLI, BORBOTTI, BRUSII, CREPITI | FISCHI, FRUSCII, GORGOGLII, GRIDI. Die Begriffe bezeichnen Alltagsgeräusche (Krachen, Prasseln, Zischen, Kreischen,..., Donnern, Plumpsen,..., Schreie), die der Futurist Luigi Russolo in seinem 1913 veröffentlichten Manifest „L’ arte dei Rumori“ in sechs Geräuschfamilien zusammengefasst und als bahnbrechende Neuerung in die Musik eingeführt hat.

Die Verknüpfung visueller und akustischer Phänomene setzt sich in der „Zentrale“ der „Gegenschmerz GMBH“ - der von Horáková + Maurer in den „Chandlerraum“ transformierten „Wartezone 142“ - fort: Vier große, italienische Platzlautsprecher (DIFFUSORE A TROMBA) markieren die interaktivste Zone der Installation. Hier steht den jungen PatientInnen eine Musicbox mit „Kindersongs“ zur Verfügung, deren Auswahl sich präzise in das Gesamtkonzept einfügt. Neben „PETER UND DER WOLF“ und Buzz Cliffords „BABYSITTER-BOOGIE“ stellen Lieder wie „AMERICA“ von Trini Lopez, der von einem Italiener 1970 in Hanoi produzierte „LA DANZA DEI DODICI TAMBURI“ und Dave Dudleys „HELLO VIETNAM“ Verbindungen zu den „CHAMPIGNONS du VIETNAM“ her, Ella Fitzgeralds „CHEW CHEW CHEW (your Bubble Gum)“ zu den „CHEWING GUMs“.
Die weitere Ausstattung des „Chandlerraums“, dessen Wände in Anlehnung an die Schilderung eines Empfangsraums in Raymond Chandlers „Langer Abschied“ in einem „flauen Braunschweiger Grün“ gestaltet sind: Ein „STAUB“-Foto, zwölf Arne Jakobson-Stapelstühle in violett und schwarz, ein Stahlrohrtisch mit einer – wie die Rahmen der „CHAMPIGNONS du VIETNAM“ – aus Wenge-Holz gefertigten Tischplatte und der „INDEX“. In Spiegelschrift – im gegenüber angebrachten Spiegel spielerisch entschlüsselbar – werden auf diesem Foto die Titel der Einzelemente der „Gegenschmerz GMBH“ aufgelistet und als komplexe Einheit visualisiert. Wer sich auf die anspruchsvolle Konzept von Horáková + Maurer einlassen will, findet hier weiterführende Hinweise, deren Zuordnung allerdings erneut den detektivischen Spürsinn der RezipientInnen herausfordert.
Zwei französischgraue Türen mit Schildern „IL CONTRODOLORE GMBH Eingang“ führen in die angrenzenden Untersuchungszimmer. Noch einmal wird die Intention der Installation im Kontrast zur klinik-eigenen Beschilderung („Anästhesie“, „Stationäre Aufnahme“) verdichtet.
Im „Chandlerraum“ scheinen sich aber auch die Widerstände gegen das Gestaltungskonzept von Horáková + Maurer zu bündeln: „Keine Frage, ein vergnügliches Spiel mit Zitaten, als Ausstattung einer coolen Bar u. dgl. bestens geeignet. (...) Am derzeitigen Ort ist Chandlers strenge Kammer ein Mißverständnis, weil nicht hartgesottene Detektive sie frequentieren werden, sondern gestreßte Bündel von Menschen, denen mit bläßlichem Erbsengrün farbpsychologisch und „Tänzen für zwölf Trommeln“ akustisch vermutlich nicht jene Rücksicht entgegengebracht wird, die am Platze wäre.“ [3]

Diese Schwachstelle im Konzept wird vom medizinischen Personal, genauer: „Der Basis“, wie es die leitende Ambulanzkrankenschwester formuliert, argumentativ zum Ausgangspunkt genommen, um gegen das Projekt Stimmung zu machen. Zu hermetisch sei die Installation, Vermittlungs-Angebote habe es von keiner Seite gegeben und die Patienten selbst hätten überwiegend negativ reagiert. Die Assoziationen zu den Fotos haben sich nicht von der Umgebung lösen können („Blut, Eiter, Würmer“) und die defunktionalisierten Spielsachen an den Wänden hätten, nach mehrfachen Demotierungs- und Benutzungsversuchen durch die Kinder, „entsorgt“ werden müssen. Eine „Bestandsaufnahme“ im Frühsommer 2003 liefert daher, wenig überraschend, einen fragmentarischen Befund, "überwuchert" von Bastelarbeiten (ironischerweise sind nicht wenige Disney-Motive darunter), Kinderzeichnungen und vor allem von bunten (Material-)Bildern eines Hobbymalers, der von der Ambulanzschwester eingeladen wurden, für eine „heimelige“ Atmosphäre zu sorgen.
Freilich, als belanglose Dekoration ist Horáková + Maurers Intervention mit ihren vernetzten Referenzen denkbar ungeeignet, nicht zuletzt, weil keiner der vielschichtigen Ansätze als absolut freigesetzt wird. Um die RezipientInnen in ihrem Assoziations- und Interpretationsfreiraum nicht einzuschränken, ziehen es die Künstler vor, selbst keine Erklärungen abzugeben. Ihre komplexe künstlerische Sprache erfordert jedoch einige Erfahrung und auch zusätzliche Informationen. Gelingt es nicht, wie im Fall der Grazer Kinderchirurgie, eine gemeinsame Kommunikationsebene mit jenen Menschen zu finden, die in einem sensiblen, an der Grenze zum Privaten angesiedelten, stark hierarchisch geprägten, öffentlichen Raum arbeiten, kann ein offenes System der Rezeption nicht funktionieren und der „Konkurs“ eines Projektes wie der „IL CONTRODOLORE GMBH“ scheint vorprogrammiert.

BK

[1] Neben der Installation von Horáková + Maurer werden zwei weitere Projekte aus dem geladenen Kunst und Bau-Wettbewerb realisiert: Werner Reiterer gestaltet die Bettwäsche in der Station, Fedo Ertl macht ein halbes Jahr lang mit den kleinen PatientInnen Radio.
[2] Weitere Objekte an den Wänden der Wartezonen: Eine Kegelbahn, 6 große und 6 kleine Fallschirmspringer, eine große Standtrommel.
[3] Walter Titz, Rote Löffel, grüner Salon, in: Kleine Zeitung, 24. Jänner 1993





Literatur:
Werner Fenz, Substitutive Kunststrategien, in: Horáková & Maurer, BUFET (Hg.), Graz 1993, S. 48ff.
Werner Fenz, Zwölf Kapitel zum "Capital", in: CAPITAL, Ausstellungskatalog, Neue Galerie Graz, 1989
Ruth Maurer-Horak, Die Krise des Motivs in der Fotografie, in: Tamara Horáková + Ewald Maurer, Johanna Hofleitner, Ruth Maurer-Horak (Hg.), Image: /images, Positionen zur zeitgenössischen Fotografie, Wien: Passagen-Verlag, 2002, S. 161ff.
Werner Fenz, 91/99: Fotografie & Öffentlichkeit, Programmatische Beispiel am Anfang und Ende eines Jahrzehnts, in: ebda, S. 227ff.